Der Umgang mit Konflikten wegen unterschiedlicher Wahrnehmungen und Überzeugungen braucht besondere Aufmerksamkeit. Ärger, grelle Wut bis hin zum dunklen Hass können unseren Alltag sehr belasten. Je mehr wir glauben, unsere Ansicht sei die (einzig) richtige Lebens-, Denk- oder Verhaltensweise und Wahrheit desto mehr. Vor allem dann, wenn wir glauben, die anderen sollten sich ändern, die anderen würden uns mit ihrer Überzeugung ärgern. Oder das Wetter. Es sollte schön sein. In den letzten Jahren habe ich eine wirkungsvolle Fragetechnik gefunden, die ich in diesem Artikel vorstelle. Mit ihnen hinterfrage ich die Geschichten, an die ich glaube. Das führt zu mehr Frieden mit mir und mit anderen.

1. Die Ausgangslage

Oft gehe ich davon aus, dass andere Menschen in mir Gefühle verursachen, unter denen ich leide. Ich will keine «negativen» Gefühle. Ich will etwas verändern, um mich besser zu fühlen. Welches ist dabei meine Ausgangslage?

Ein Gebet, dessen Urheber nicht nachgewiesen werden kann, besagt:

«Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»

Es gibt drei Angelegenheiten: meine, deine und «Gottes» (alternativer Begriff ist frei wählbar). Doch nur meine Angelegenheit kann ich verändern. Es gibt drei Zeiten: die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Nur im Jetzt kann ich etwas etwas tun oder nicht tun. Wenn ich nicht von der Realität ausgehe und aktiv werde, kann es sein, dass meine Massnahme nicht zielführend ist. Immer wieder falle ich darauf herein, dass ich annehme, es sei unsere Angelegenheit, wenn jemand anders etwas tut. Immer wieder falle ich darauf rein, dass ich von Gefühlen der Vergangenheit ausgehe. Ich reagiere aus der Vergangenheit heraus ohne geistesgegenwärtig zu sein und deshalb nicht der aktuellen Situation entsprechend. Meine Angelegenheit obliegt meiner Verantwortung, deine und anderer Angelegenheit nicht.

Soll ich wirklich nur in meinen eigenen Angelegenheiten stecken bleiben? Eine gefühlslose Egoistin sein? – «Sollten wir uns nicht darum kümmern, was in der Welt geschieht? Und was ist mit Terrorismus, Krieg, Vergewaltigung … wollen wir das alles dulden?» wurde Byron Katie gefragt, die die Trennung der Angelegenheiten für wesentlich erachtet: «Im Gegenteil. Ich sehe, dass ich leide, wenn ich glaube, diese Dinge sollten nicht geschehen. Kann ich den Krieg in mir selbst beenden? Kann ich damit aufhören, mich selbst und andere durch meine missbräuchlichen Gedanken und Handlungen zu vergewaltigen? Wenn nicht, setze ich durch mich genau das fort, was ich in der Welt beenden will. Ich fange damit an, mein eigenes Leiden, meinen eigenen Krieg zu beenden. Das ist eine Lebensaufgabe».

Kann jemand Frieden in die Welt bringen, der Unfrieden sät? Ich denke bei meiner Frage an die vielen Aktionen und Kommentare in den Medien, die Wut, Diskriminierungen bis zu Hass ausdrücken, sich gegen jemanden anderen wenden. «Wenn jemand die Ehre meiner Mutter verletzt, erwartet ihn ein Faustschlag», antwortete Papst Franziskus auf die Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo. Ich bin nicht der Meinung, dass man die Gefühle irgendeines Menschen oder das Ehrgefühl irgendeines Vertreters einer Religion verletzten sollte. Doch wenn ich glaube, jemand habe das getan: Würde ein Faustschlag jemandem dienen? In wessen «Namen» bzw. «Angelegenheit» tue ich das?

Wenn du die Welt verändern willst, verändere erst dein Land,
wenn du dein Land verändern willst, verändere erst dein Dorf,
wenn du dein Dorf verändern willst, verändere erst deine Familie,
wenn du deine Familie verändern willst, verändere erst dich selbst.
Du bist der einzige, den du verändern kannst. Chinesisches Sprichwort 

2. Der Kampf gegen die Realität

Also kümmere ich mich zuerst mal um meine Angelegenheiten, meine Gedanken über mich, die anderen und die Welt, die mich ärgern. Zum Beispiel bei Gedanken, die mit «Ich sollte …» oder «Mein Chef sollte … », «Religiöse Menschen sind … » beginnen. Ein Konflikt entsteht, wenn mein Denken nicht mit der Realität übereinstimmt. Ich akzeptiere nicht, was ist, sondern lehne mich gegen die Wirklichkeit auf. Es sollte anders sein. Ich haben Recht,  halte für wahr, was vielleicht gar nicht so ist. Ich gebe Worten und Taten Bedeutung, interpretiere. Das, was ist, kann ich nicht ändern. Warum? Weil bereits ist, was ist. Ich reagiere auf Vergangenes.

Kampf gegen die RealitätÜberzeugungen und Gedanken, die ärgern oder belasten können:

  • Kunde XY sollte freundlich sein.
  • Ein Chef sollte … („Lieblingssatz“ einfügen).
  • Mein Mann sollte (nur) mich lieben.
  • XY hat mich verletzt.
  • Meine Ehre wurde verletzt.
  • Karrikaturen verletzen seine religiösen Gefühle.
  • Terroristen gefährden unsere Medien -und Pressefreiheit.
  • Die Welt ist … (Überzeugung einfügen)

Ärger und Wut sind Zeichen von Unfrieden (gegen sich selbst), der sich oft nach aus-drückt, nach aussen drückt, sich entlädt. Wenn eine dieser Überzeugungen Druck und Stress auslöst, dann habe ich einen Anlass, uns selbst zu hinterfragen, ob das wahr ist, was ich da glaube. So erhalte ich mehr Klarheit über meine Ausgangslage.

«Wir identifizieren uns oft so stark mit unseren Gedanken, dass wir sie mit der Wirklichkeit verwechseln.» (Peter A. Levine)

3. Konfliktmanagement ist Selbstmangement

Projektionen Es gibt viele Konzeptionen dafür, was Wirklichkeit und was Wahrheit ist. Es bleibt mir deshalb nichts anderes übrig, als selbst herauszufinden, zu hinterfragen, was für mich wahr und wirklich ist. Zum Beispiel vor dem Veröffentlichen eines Posts oder Kommentars gegen andere Menschen, das andere Geschlecht, politische Gruppierungen, Religionen oder Rassen. Oder bevor ich einem anderen Menschen meine Wahrheit an den Kopf werfe. Meine Herangehensweise: 1) Welchen Gedanken glaube ich? 2) «Ich bin OK – du bist OK» (vergleiche «Wo genau liegt die gleiche Augenhöhe?» 3) «Und was tue ich jetzt?» 

Eine wichtige Voraussetzung, um Fortschritte zu machen, ist für mich das Beobachten ohne zu Bewerten, auch mir selbst gegenüber. Das Erforschen durch Beobachtung verändert. Ich kann daraus resultierende Verhaltensweisen wahrnehmen, hinterfragen und neue Perspektiven sehen. Gibt es einen guten Grund für mich an einem stresserzeugenden Gedanken festzuhalten?

4. Die 4 Fragen

Welchen Gedanken glaube ich? Ein Beispiel eines Gedankens, der Ärger oder gar schlaflose Nächte verursachen kann:

«Muslimische Terroristen gefährden die Medien- und Pressefreiheit.»

1. Ist das wahr? Ja. 
2. Kann ich mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist? Nein.
3. Wie fühle ich mich, wenn ich das glaube? Wütend, dass sie das gemacht haben.  (…)
4. Wer/wie wäre ich, wenn ich das nicht glauben würden?
Ich würde mich gegenüber den Muslimen in meiner Nachbarschaft/meinem Staat toleranter verhalten. (…)
Ist das Gegenteil auch wahr? a) Sie gefährden unsere Medien- und Pressefreiheit nicht. Stimmt auch. Insofern: Die Terroristen haben 12 Menschen umgebracht. Das was nachher geschieht, tun andere Menschen. b) Andere Menschen gefährden die Medien- und Pressefreiheit. Stimmt auch: Jene, die sie verbieten, einschränken und jene, die sie sich nicht (mehr) nehmen. Ich glaube auch, dass die staatlichen Instanzen sie gefährden durch Repressionen, Abschottung der Presse (…) c) Ich gefährde die Medien- und Pressefreiheit, wenn ich sie mir nicht nehme (…)

Mögliche Erkenntnisse aus dieser Arbeit: Ich bin verantwortlich für meine Medien- und Pressefreiheit. Es können weitere Erkenntnisse oder Fragen auftauchen, die ich, wenn sie mich ebenso stressen, ebenso hinterfrage. Wie bei einer Zwiebel schäle ich so Schicht um Schicht bis zu meinen grundlegenden Überzeugungen. Will ich sie weiterhin glauben? Bringen sie Frieden?

Ich lenke durch das Hinterfragen meiner Glaubenssätze meine Gefühle, meine Reaktionen und meine Aufmerksamkeit auf andere Perspektiven. Erstaunlich, welche neuen Bilder ich so sehen kann, die mir vorher verborgen waren. Das erkennen von neuen Ansätzen kann ein Problemlösung herbeiführen, einen bisher unklaren Punkt klären, nebulöses aufdecken und starre Positionen aufweichen. Selbstverständlich darf ich auch weiterhin auf die Leinwand schauen und staunen. Mein Film ist noch nicht fertig.

Irgendwann werde ich vielleicht nicht nur den Film wechseln, sondern das Kino verlassen.

5. Persönliches Schlusswort

Diese vier Fragen haben in meinem Leben positive Veränderungen herbeigeführt. Sie sind wirkungsvoll. Sie relativieren die Macht meiner Gedanken. Ich muss nicht an ihnen festhalten, ihnen folgen oder gar leiden. Anstatt sie ungefiltert für wahr zu erachten und darauf zu reagieren, kann ich mich neu orientieren. Schlussendlich bleiben mehr Verständnis und Empathie für mich und andere übrig. Ohne unnötigen Ballast wird mein Leben leichter. Mittlerweile unterstütze ich auch andere Menschen auf diesem Weg, ihre Gedanken zu hinterfragen. Ein Schritt zu mehr Frieden – mit mir selbst, den anderen und der Welt.

Meine persönlichen Linktipps