Neue Technologien haben immer schon unser Denken und Verhalten verändert. In den letzten Jahrzehnten hat die  digitale Revolution stark in unseren Alltag eingegriffen. Nicht nur, dass wir tagelang vor dem Computer sitzen und online Arbeiten erledigen. Nein, wir verbringen auch immer mehr Zeit im Internet, um Informationen zu sammeln, die wir früher vom Radio, Fernsehen, in der Zeitung und noch früher von unseren Kontakten im realen Leben erfahren haben. Mit den sozialen Medien verlagert sich nun sogar unsere Kontaktpflege mit engsten Freunden wie entferntesten Bekannten und Unbekannten ins Internet. Informationen jeglicher Art werden über die Netzwerke über alle Kontinente hinweg ausgetauscht. Die sogenannten sozialen Medien verändern unser Leben, unser Privat- und Geschäftsleben. Ein paar Fragen und Antworten dazu:

Wollen wir unser soziales Leben digitalisieren?

Vielleicht wollen nicht alle ihr soziales Netz online pflegen, aber offensichtlich sehr viele: Die Nutzung der sozialen Medien steigt. Die Menschen wollen heute das Bedürfnis nach Austausch und sozialen Kontakten auch über die digitalen Medien befriedigen. Die Nutzerzahlen der sozialen Plattformen zeigen uns auf, dass immer mehr Menschen immer mehr Zeit in sozialen Plattformen verbringen. Ein Nebenprodukt dabei ist, dass das Sozialleben digitalisiert in unterschiedlichster Form (Anzahl Freunde/Followers oder in grafischer Form, z.B. Social Graph/Open Graph) verfolgt, gespeichert und abgerufen werden kann.

Facebook, Twitter & Co.

Facebook hat Google überholt. Die mächtigste Plattform der Welt verzeichnet 674 Millionen User, nahezu 1 Million neue User pro Jahr. 35 Millionen Nutzer weltweit aktualisieren ihren Status täglich. In der Schweiz verzeichnen die veröffentlichten Zahlen per Ende Mai 2011 über 2,56 Millionen Nutzende, wohingegen es letztes Jahr im gleichen Monat noch aktive 2.2 Millionen waren. Gemäss den monatlichen Nutzerzahlen von Thomas Hutter sind die 26-34-Jährigen mit 27.6 % am stärksten vertreten. Insgesamt nutzen 82.4 % Erwerbstätige diese Plattform. Facebook führt gemäss der RITA-Studie „Defining Social Networks in Switzerland“, die sozialen Netzerke der Schweiz mit 61 % Reichweite an.

Twitter zählt 175 Millionen weltweit. Im deutschen Sprachgebiet steigerte Twitter die Anzahl ihrer aktiven Twitterern (mit mindestens ein Tweet pro Woche) in knapp einem Jahr von 270’000 im April 2010 auf 480‘000 im März 2011 (Zunahme: 77.8 %) Die Twitterer erreichen im Vergleich zu den anderen Social Networkers eine Reichweite von  6.3 Prozent.

Zu Youtube, der von den grössten Unternehmen der Schweiz gemäss der Bernet/Kundert-Studie am zweitmeisten genutzten Austauschplattform sind keine aktuellen Nutzerzahlen für die  Schweiz erhältlich. Ausgewiesen ist die Sehdauer von Online-Videos weltweit. Diese hat sich gemäss Nielsen Neflix/Netzwertig, zwischen Januar 2010 und Januar 2011 von 112 Minuten auf 143 Minuten gesteigert. In Deutschland sieht die Nutzungsrate positiver aus:  235 Minuten lang wurden im Januar 2010 Filme konsumiert und 668 Minuten im Januar 2011 – eine Steigerung um nahezu das Dreifache!

Flickr ist neben Facebook die grösste Foto-Austausch-Community mit 430‘000 Nutzern.

 

 

Xing mit 2.6 % der Social Networker ist neu die Nummer 2 der am häufigsten genutzten Business Networking Plattformen der Schweiz. LinkedIn weist in der RITA-Studie bereits 5.1 % Unique Visitors aus.

Immer mehr Plattformen (wie zum Beispiel Foursquare mit 0.2 % Reichweite) tauchen im Blickfeld der Öffentlichkeit auf und immer mehr Menschen finden dafür Einsatzmöglichkeiten, auf die sich nicht mehr verzichten wollen.

Nicht nur die Jugendlichen sind online

Die 35-44-Jährigen sind in den Schweizer Netzwerken der RITA-Studie nach die grösste Altersgruppe. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass in der Auswertung Drittanbieter und Mobile-Applikationen nicht eingeschlossen waren. Eine Studie der Studie der ZHAW (Interview)  zeigt,  dass 84 84 % der Befragten auf einer Social Media Plattform sind. Demnach sitzen unter 12-19-jährigen Schülerinnen und Schülern durchschnittlich 2 Stunden und 5 Minuten surfend vor ihrem PC. Handy und Internet sind deren liebste Freizeitbeschäftigungen. Die TV-Nutzung ist leicht zurückgegangen. Games sind vor allem bei Knaben beliebt, die Mädchen sind stärker in den Dialogmedien zu Hause, filmen und fotografieren.

Manche Eltern sind stolz darauf, was die Kinder bereits können. Die Jugendlichen sind oft schneller und weiter im Internet als sie es je sein werden. Anderen jagt diese Entwicklung unbehagliche Schauer über den Rücken. Wo führt sie uns hin?

Wo führt uns diese Entwicklung hin?

 

Die Suche nach einer Antwort führt uns oft zuerst in die Vergangenheit. In die Zukunft zu blicken können nur wenige wirklich zuverlässig, dies zeigt sich im Nachhinein. So versuchen wir, die Entwicklung anhand der Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen und in einen für uns sinngebenden Kontext zu stellen. Einerseits kommt Begeisterung auf, wenn wir die Möglichkeiten sehen, die wir mit den neuen Technologien haben. Andererseits kommt – so sicher wie das Amen in der Kirche – in Anbetracht der eingeschätzten Risiken auch eine instinktive Abwehr vor der nahenden Veränderung auf. Wir können versuchen, es abzuschätzen, doch können wir nicht wissen, was auf uns zukommt!

Der natürliche Widerstand

Das Verteufeln von neuen Techniken und Technologien ist wohl so alt wie es die Menschheit gibt. Die Angst vor Veränderung, der Verlust liebgewonnener Gewohnheiten, aber auch der reale Verlust von bisherigen Fähigkeiten, gültigen Normen, Werten und Verhalten zu Gunsten von neuen, bis dahin noch nicht Assimiliertem wird von der Masse der Menschen als herausfordernd, unangenehm bis hin zu gefährlich erlebt.

Twitter makes you stupid - NY TimesDie digitalen Medien, vom Internet bis hin zum neusten Trend, die sozialen Medien, sind von dieser Kritik die Menschheit zu gefährden nicht ausgeschlossen. Bill Keller, Chefredakteur der New York Times setzt den Tweet up #TwittermakesYouStupid und argumentiert anhand eines Beispiels seiner 13-jährigen Tochter über die Kosten der sozialen Veränderungen.

Vom Sinn und Unsinn des Lamentierens

Das Lamentieren über verlorene Fähig- und Fertigkeiten ist meines Erachtens nicht absurd (wie es Christian Stöcker im Spiegel Online) postuliert. Denn Lamentieren und Trauern ist beim Tod von Menschen und Dingen nichts Ungewöhnliches, scheinbar etwas Natürliches. Wir dürfen traurig sein, dass wir dies und jenes nicht mehr können (wie kopfrechnen oder uns konzentrieren), uns der Nachteile und Kosten einer Entwicklung bewusst sein (Ablenkung, Informationsflut, zunehmende Geschwindigkeit) genauso bewusst sein wie wir uns freuen dürfen über neue Fähigkeiten und Gewinne (z.B. globales Kommunizieren und Publizieren) und Vorteile (zunehmende Transparenz und Geschwindigkeit, z.B. von weltweiten Nachrichten). Beides ist berechtigt.

Ein Lamento kann die gesellschaftliche Entwicklung mitnichten zurückdrehen. Es ist ein erster Schritt, die Erkenntnis einer Herausforderung, und er ruft zur Auseinandersetzung auf. Diese Menschen, die neuen Entwicklungen Widerstand bieten, nehmen eine soziale Funktion beim Auffinden von neuen Wegen ein: sie verlangen Sicherheiten, können Entwicklungen verlangsamen, animieren zur Überprüfung – und in diesem Fall hoffentlich zu einem sinnvollen Einsatz und Umgang. Sie motivieren jene, die für den Fortschritt sind, sich zu vereinen und für das Neue einzustehen.

Mit dem Zweifel beginnt die Auseinandersetzung

Durch den Chefredaktor der NY Times haben Zweifler am Nutzen der sozialen Netzwerke eine prominente Stimme – sie fühlen sich verstanden, werden gehört. Auch dies ist wichtig. Stimmen aus der Social Media Community werden auf den Plan gerufen und legen ihre Argumente dar. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung ist spürbar im Gange. Die Gestaltung der Zukunft kann so bewusster in Angriff genommen werden. Bremser und Traditionelle sind so wichtig, wie Trolle. Sie stärken schlussendlich die Strukturen einer Gemeinschaft, wie dies Sascha Lobo in seiner Trollforschung herausarbeitete: „Sie provozieren und fragen nach: Seid ihr sicher, dass ihr dahin wollt?“ oder in den Worten von Nicolas Carr: „Is Google making us stupid?“.

Sokrates gegen das geschriebene Wort

Schon Sokrates hat sich gegen das Aufkommen einer neuen Technik gesträubt: Er war gegen das Aufschreiben der Gedanken auf Papier. Nicolas Carr zeigt in seinem Buch „Wer bin ich, wenn ich online bin…“ auf, dass Sokrates befürchtete, dass sich die Menschen dann auf nicht mehr auf ihr eigenes Denken verlassen würden, sondern ihr Wissen an das geschriebene Wort abgeben würden. Er warnte, „dass uns das Schreiben zu schlechteren Denkern machen, da wir nicht mehr die geistige Tiefe erreichen würden, die zu Weisheit und wahrer Glückseligkeit führe.“ Ohne gute Instruktion würden sie zwar viel Wissen erlangen können, aber nicht an wahrer Weisheit gewinnen. Sie würden aufhören, ihr Denkvermögen zu trainieren und vergesslich werden. Wie ähnlich Sokrates‘ Argumente den heutigen gegen das Internet sind!

Sokrates konnte er die bahnbrechende globale Wirkung des Lesens und Schreibens nicht voraussehen. Diese Fähigkeiten waren uns nicht angeboren, sondern haben wir durch das Aufkommen des Papiers erlernt.

Nietsche’s Schreibmaschine

Als Friedrich Nietsche um 1882 eine Schreibkugel kaufte, bemerkte er, wie das benutzte Schreibmittel seine Gedanken mitbestimmten.

Er schrieb an seinen Sekretär Heinrich Köselitz: „Sie haben recht – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“ Auch ein Komponist, ein Freund Nietsches bemerkte den Wechsel seines Schreibstils. Der Freund selbst konstatierte, Gedanken in Musik und Sprache seien oft abhängig von der Qualität des Schreibzeug und Papiers. (Quelle: Nicolas Carr und www.momo-berlin.de)

Das Rad der Geschichte dreht sich weiter

Die Geschichte des Social Networkings nimmt weiter seinen Lauf. Weder das Schreiben noch die Schreibmaschine, weder das Telefon oder den Laptop würden wir heute generell verdammen.

Der Weg in die Zukunft führt nicht zurück, sondern voran! Lasst uns die Zukunft gemeinsam gestalten!

 

PeopleBrowsr Presents A Brief Cartoon History of Social Networking 1930-2015

«Nichts ist, das dich bewegt, du selber bist das Rad,
das aus sich selbsten läuft und keine Ruhe hat.»
Angelus Silesius: Der cherubinische Wandersmann

 

Weiterführende Links

RITA-Studie: „Defining Social Networks in Switzerland“
Bill Keller: Artikel The Twitter Trap 


Nicolas Carr
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